Das Thema Missbrauch gegen Kinder und Jugendliche in Schulen, Heimen und Internaten hat leider auch um Mecklenburg-Vorpommern keinen Bogen gemacht. Über die Abscheulichkeit der Verbrechen besteht innerhalb der Demokraten glücklicherweise Einigkeit. Über den richtigen Weg der Aufarbeitung, Verfolgung und Prävention diskutieren Politiker aller Lager allerdings sehr unterschiedlich. So auch in Schwerin.
In einer teilweise sehr emotionalen Debatte hat der Landtag hat heute den FDP-Antrag "Missbrauch von Kindern im Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns aufklären" (Drs. 5/3386) beraten. Der Antrag formuliert das Ziel, eine interministerielle Arbeitsgruppe zur juristischen und geschichtlichen Aufarbeitung von Missbrauchsfällen an Kindern in der Vergangenheit und in der Gegenwart einzurichten. Die Arbeitsgruppe soll sich vor allem mit der Situation von Kindern und Jugendlichen in Kinderheimen und ehemaligen Jugendwerkhöfen vor 1989 auf dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns befassen. Außerdem soll unter Federführung des Justizministeriums und unter Beteiligung des Bürgerbeauftragten ein „Runder Tisch“ gegen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen eingerichtet werden, dessen Ziel es ist, Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch aufzuarbeiten und Betroffenen Hilfen zur individuellen Bewältigung anzubieten. Zum anderen sollen Vorschläge zur Änderung der rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erarbeitet werden, um sexuelle und körperliche Gewalt zukünftig besser vermeiden, aufdecken und ahnden zu können.
Gino Leonhard, der den Antrag für seine Fraktion einbrachte, sprach angesichts der Missbrauchsfälle von einem Missbrauch des Urvertrauens der Schwächsten unserer Gesellschaft und von einem schwerwiegenden Verstoß gegen die Menschenwürde der Kinder. Opfer, die selbst Jahre nach dem Missbrauch noch nicht selbst über ihre Erfahrungen sprechen könnten, hätten Anspruch auf Entschädigung und Unterstützung bei der individuellen Verarbeitung des Erlebten. In den Spezialkinderheimen und Jugendwerkhöfen der DDR hätte es einen spezifischen Missbrauch gegeben, der nicht an einem zentralen Runden Tisch für alle nun bekannt gewordenen Missbrauchsfälle aufgearbeitet werden könne.
CDU-Justizministerin Uta-Maria Kuder vertrat hingegen die Auffassung, dass eine getrennte Aufarbeitung nach Ost und West nicht sinnvoll sei, weil so neue Ungerechtigkeiten entstehen könnten. Allerdings bestätigte sie, dass bei den besonderen Gründen für eine Heimeinweisung in der DDR zusätzlich zur Verfolgung des Missbrauchs die strafrechtliche Rehabilitierung mit Kapitalentschädigung eine Rolle spiele. Kuder erwähnte als unmittelbare Maßnahme die Einrichtung einer Anlaufstelle bei der Opferberatung in Rostock. Daneben gebe es nun die Möglichkeit eines erweitereten Führungszeugnisses für Mitarbeiter von Jugendeinrichtungen und Vereinen, die schwerpunktmäßig mit Kindern arbeiten.
SPD-Sozialministerin Manuela Schwesig äußerte den Wunsch, bei Missbrauch zukünftig von Gewalt gegen Kinder zu sprechen. Missbrauch suggeriere, dass es einen legalen "Gebrauch" von Kindern gebe. Schwesig möchte erreichen, dass Schuld und Scham künftig bei den Tätern liege und nicht mehr bei den Opfern, wie es leider oft der Fall sei. Sie berichtete zudem vom Runden Tisch in Berlin, dessen Teilnehmerin sie war. Die erste Sitzung sei bereits sehr konkret gewesen - es bestünden gute Chancen, dass die nun tagenden Arbeitsgruppen die öffentliche Aufmerksamkeit nutzten, um das Thema zu enttabuisieren, den Opfern wirksam zu helfen und zukünftige Fälle zu vermeiden.
Sichtlich gerührt und mit den Tränen kämpfend forderte LINKEN-Abgeordnete Barbara Borchardt, das Thema frei von politischen Erwägungen zu diskutieren. Gewalt gegen Kinder sei nicht nach jeweiligem politischen System zu differenzieren. Missbrauch finde immer dort statt, wo es geschlossene Strukturen gäbe, die sich einer demokratischen Kontrolle entzögen. Borchardt nannte eine pauschale Strafverschärfung nicht das Allheilmittel. Vielmehr brauche man wirkungsvolle Schutzbestimmungen für Kinder und Jugendliche.
SPD-Rechtsexperte Reinhard Dankert verurteilte das Haschen nach Schlagzeilen, wie es in der Diskussion um den richtigen Weg zur Aufklärung der schrecklichen Fälle teilweise erkennbar sei. Das helfe keinem Opfer. Dankert kündigte an, dass sich der Rechtsausschuss ausführlich mit dem Thema Missbrauch beschäftigen werde - ohne Blick auf Ort, Zeit und Institution, in der das Unfassbare passiert sei.
Dr. Margret Seemann, Parlamentarische Staatssekretärin für Gleichstellung, die nach einem unerträglichen Redebeitrag der NPD sprach, verwies auf die Auschwitzausstellung im Foyer des Landtags. Wer sich in der Tradition von Bestien sehe, die Kinder vergasten, als Arbeitssklaven misshandelten und zu medizinischen Experimenten missbrauchten, hätte nicht das moralische Recht, sich zu diesem Thema mit erhobenem Zeigefinger zu äußern. Seemanns außerdem geäußerte Kritik an den Vorschlägen der Liberalen wurden von diesen offensichtlich sehr persönlich genommen: Sie forderten im Anschluss an die Debatte per Pressemitteilung deren Rücktritt als Staatssekretärin. Diese völlig absurde Forderung wies die SPD-Fraktion umgehend zurück: es gebe keinerlei Grund für Frau Dr. Seemann, zurückzutreten, bloß weil sie als Abgeordnete aus ihrer fachlichen Sicht Kritik an Inhalt und Zielrichtung des FDP-Antrags geübt habe, so Fraktionssprecherin Tordis Batscheider.
Der Antrag wurde schließlich fraktionsübergreifend in den Rechtsausschuss überwiesen.